Wissenschaftliche Arbeiten finden viel zu selten den Weg in die Praxis, zumal in die Verwaltungspraxis. Ob als Seminararbeit, ungedruckte Bachelor- oder Masterarbeit, Manuskriptversion einer zukünftigen Publikation, vieles wird vor allem für die Archive produziert. Dabei finden oft gerade junge Menschen bei ihren Forschungsaktivitäten einen frischen und bemerkenswerten Zugang zu gesellschaftlichen Fragen. In der neuen Rubrik "Expeditionen" stellen wir Papiere vor, die sich für den kritischen Dialog eignen – und die deswegen nicht in einer Schublade verschwinden sollen.
Kinderarmut in Deutschland
von Elena Butzen
Sich dem Phänomen der Kinderarmut und der Lebenssituation von armen Kindern in Industrienationen heute anzunähern, ist nicht weniger kompliziert, als diesen Versuch für die Vergangenheit zu unternehmen. Es bedeutet, viele wissenschaftliche Erkenntnisse aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenzutragen, und neben einer Vielzahl möglicher Betrachtungsweisen unter anderem etwa herauszustellen, unter welchen sozialen Bedingungen Kinder heute leben, welche Ursachen für Armut und welche Auswirkungen von Armut auf Individuen und Gesellschaft bekannt sind und welche politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung es gibt.
Um der ganz konkreten Fragestellung nachzugehen, ob aktuell in Deutschland kinderspezifische Bedarfe durch die Bildungs- und Teilhabeleistungen des Staates gedeckt werden, ist Elena Butzen vor dieser Herausforderung nicht zurückgeschreckt. Armut bedeutet im Kontext ihrer Untersuchung zunächst Geldarmut. Doch schnell wird deutlich, dass in einer Gesellschaft, in der (nach wie vor) Kindheit als Schutz- und Lernraum verstanden wird, damit auch Bildungsarmut und soziale Exklusion verbunden sind. Die These der Autorin lautet, dass die etablierten staatlichen Sozialleistungen zwar einen positiven Ansatz zur Bekämpfung von Kinderarmut darstellen, aber nicht ausreichend sind.
Polizisten als Täter - Zur Plicht der Verantwortung
von Tobias Bucco
Ende der 1960er Jahre meldeten sich in der deutschen Polizei progressive, liberal denkende Führungskräfte zu Wort, die unter anderem über Anforderungen an die „innere Führung“ der Polizei nachdachten. Einer dieser Vordenker war Tonis Hunold. Er äußerte sich in seinem viel gelesenen Werk „Polizei in der Reform. Was Staatsbürger und Polizei voneinander erwarten könnten“ (1968) unter anderem so: „Die freiwillige innere Bindung zur beruflichen Lebensgemeinschaft begründet Mitverantwortung. Letztere erhöht das Selbstvertrauen und spornt wiederum zum Mitdenken und zur Leistung an.“
Viel Zeit ist vergangen, seit Hunold seine Gedanken veröffentlicht hat. Aber die immer auch öffentlich diskutierte Frage, wie die Polizei als Trägerin des staatlichen Gewaltmonopols es mit der Ausübung von Gewalt hält, fordert eine dauerhafte Auseinandersetzung damit, welche Bedeutung die Verantwortung des einzelnen Polizisten spielt.
Tobias Bucco setzt sich mit dieser Frage auseinander, indem er zunächst einen Blick in die Geschichte wirft: Dass „ganz normale Männer“ als Mitglieder von Polizeibataillonen im Zweiten Weltkrieg zu Massenmördern geworden sind, ist bekannt und mittlerweile intensiv erforscht. Bucco geht der Frage nach dem „Warum?“ mit einem neuen Ansatz nach, indem er Ergebnisse aus der sozialpsychologischen Forschung zur Analyse heranzieht. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse überträgt er auf die Suche nach Ursachen von ungesetzlicher Polizeigewalt heute. Sein Fazit ist eindeutig: Verantwortungsbewusstsein erhöht die Wahrscheinlichkeit, sich unrechtmäßiger Gewalthandlungen zu enthalten und zu verweigern. Die Forderung an die Lehr- und Führungskräfte einer unter den Bedingungen von Rechtsstaat und Remonstrationspflicht agierenden Polizei kann deswegen nur lauten: Verantwortung muss vorgelebt und ganz bewusst und aktiv in Ausbildung, Studium und Berufsalltag jedem einzelnen Organisationsmitglied zur selbstverständlichen, verinnerlichten Pflicht gemacht werden.
Erfassen, Erschließen, Verwalten, Verwenden - Zur Bedeutung der Stasi-Unterlagen-Behörde für die Opfer politischer Verfolgung durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR
von Daniela Vater
Wie sehr am Beispiel der Stasi die besondere Verbindung von Geschichte und Gedächtnis manifestiert, wurde deutlich, als der Deutsche Bundestag im vergangenen Jahr beschloss, dass im Jahr 2021 die
Bestände der Stasi-Unterlagen-Behörde in das Bundesarchiv überführt werden. Die Bundestagsdebatte ebenso wie die öffentliche Diskussion zeigten eine mitunter emotional aufgeladene Polarisierung der
Positionen zu dieser Neuordnung: Während die einen mit Blick auf Geschichte und Gedächtnis die mutwillige, politisch gewollte „Abwicklung“ und den „Schlussstrich“ unter einen Teil ungeliebter
deutscher Geschichte unterstellten, glaubten die anderen in der Integration der Stasiunterlagenbehörde in das Bundesarchiv die Aufwertung der Behörde zu erkennen: Seriöse wissenschaftliche
Erforschung und „Aufarbeitung“ der Arbeitsweise des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR sowie die fortwährende Erinnerung an das begangene Unrecht im Rahmen von aktengestützten
Bildungsprojekten seien keinesfalls gefährdet.
Daniela Vater streift diese Diskussion in ihrer Untersuchung nur am Rande, denn sie interessiert vor allem: Was bedeuten eigentlich die Existenz der Stasi-Unterlagenbehörde und deren Arbeit für die
Opfer politischer Verfolgung in der DDR?